1 // PASSAGEN

 

Es ist eine Frage der Perspektive. Und der Zeit. Denn man muss sich schon eine Weile unbeirrt ins Unsichere vorwagen, dann kommt vielleicht sowas wie dieses Werk bei heraus.
Das zwölfte „piece“ der Werkreihe Amnesiatomica ist seit Dezember fertig. Und wie der Name bereits anklingen lässt, geht es mir immer noch um verwirrend durchstrukturierte Gebilde.

Auch bei diesem Werk mag die Frage aufkommen, wieso es nun genau so und nicht anders aussieht. Wiedermal ist das Aussehen nur Ergebnis einer längerfristigen Auseinandersetzung und den dabei getroffenen Entscheidungen. Diesen Prozess will ich allerdings nicht komplett nachzeichnen. Lediglich der ungewöhnliche Kerngedanke scheint mir Grund genug für eine Backstory. Also gleich dazu.

 

 

 

2 // ÜBERGÄNGE

 

Der fließende Übergang von einem Schreibstil in einen Anderen war präzise ausgedrückt der Kerngedanke. Stil-Vermischungen an und für sich sind nichts Ungewöhnliches, nur ist eben diese spezielle Art der Vermischung eher eine Rarität. Das liegt wohl daran, dass dieser Ansatz für viele Textinhalte auch nicht tragend funktioniert. Die Amnesiatomica-Werkreihe bietet allerdings für genau solche Experimente den idealen Rahmen.

Das Zeilenband im Bild ist also ein Zusammenspiel von grob sechs bis sieben verschiedenen Schreibstilen, die ich bereits über Monate hinweg erprobt hatte. Mir schwebte vor, diese ‚Halbalphabete‘ nicht separat voneinander zu verwenden. Und ich malte mir vor dem inneren Auge aus, dass diese Idee der fließenden Verwandlungen nur dann gelungen umgesetzt sei, wenn letztlich die Grenze zwischen Stilen und Übergangsformen verschwimmen würde … ohne dabei vage zu agieren.

Blickt man von dieser Perspektive aus auf die größeren Zusammenhänge, so wirken die uns bekannten Hauptstile wie Inseln in weitverzweigten Gewässern. Sie sind die Orte, an denen wir Orientierung und Halt finden, an denen das Leben klaren Regeln folgt. Auf diesen ‚Inseln’ ist klar, wo man sich genau befindet. (Sprich: Hier Gotik – da Antike, hier Renaissance – da Moderne – hier Okzident, da Orient, … ). Historisch tradierte Schreibstile sind in diesem Zusammenhang also auch 2023 noch Ankerstellen bzw. Identifikatoren verschiedenster Art. Allerdings liegt der viel größere Anteil der Ereignisse unscheinbar zwischen diesen ‚Inseln‘; in den Strömungen und sich überkreuzenden Entwicklungsprozessen ringsherum.

 

 

 

3 // ENGPÄSSE

 

Soweit die schönen Gedanken. Doch in der Praxis stellt sich dennoch die Frage, wie die Idee funktionieren soll. Denn nach dem ersten Eintauchen war bereits klar: Diese unerforschten Gewässer wirbeln die gewohnten Regeln des Schreibens ordentlich durcheinander und es entstehen vielschichtige Situationen. Zum Beispiel: Von einer Fraktur zu einer Italic zu wechseln, heißt irgendwann die gebrochene Formensprache zu verlassen, und irgendwann die Buchstaben womöglich in eine Neigungsachse zu legen. Es gibt mehrere Reihenfolgen. Auch eine Art Mimikry des Grauwerts kann funktionieren. Es brauchte einige Anläufe, um herauszufinden, wie Schrift in diesen Übergangszuständen fließen kann.
Bei formal definierten Schreibstilen ist klar, was perfektioniert werden kann. Aber was, wenn keine Vorlage existiert? Dann ergibt sich der Fahrplan erst unterwegs. Stück für Stück tauchte ich in diese mir neue Logik der Zwischenstile ein.

 

 

 

4 // VERZWEIGUNGEN

 

Wie zu erwarten, verlief auch hier der Weg nicht ganz gerade. Und ein Teil der Lösung hatte nichts mit Kalligrafie zu tun. Während dieser Tauchgänge kam die Lösung aus einem ganz anderen Bereich.
Zur Zeit der Entstehung dieses Bildes faszinierten mich die Aggregatzustände von Materie. In einer Doku über Exoplaneten hörte ich zufällig vom sog. „Eis VII“, einem Festzustand von Wasser, der nicht unter Kälte, sondern unter extremem Druck entsteht. Bis dahin war mir unbekannt, dass es noch weitere dieser Aggregatzustände gibt. Also recherchierte ich und versuchte, diese Szenarien auf Schrift anzuwenden. Irgendwann klickte es auf diese Weise.
Das Konzept der flexiblen Buchstabenanatomie war mir bereits bekannt und die feste Form der Buchstaben war ja nichts weiter als ein anderer Begriff für die formal gefestigten Hauptstile. In dieser Anlehnung suchte ich weiter nach einem flüssigen Zustand von Buchstaben (nicht im Sinne einer Kursive oder Kurrent, sondern ein Zustand, in dem die Buchstaben nochmal anders miteinander reagieren). Soweit der notwendige Umweg.

 

 

 

5 // MÜNDUNGEN

 

Diese Idee der fließenden Stilübergänge hat sich mit diesem Bild keinesfalls erschöpft. Im Gegenteil. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Form des Schreibens eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, die man begreifen und erlernen kann. Dabei geht es überhaupt nicht darum, mit der Tradition zu brechen, sondern um vielfältige Bewegungsfreiheit und die Erkundung eines möglichst breit gefächerten Spektrums. Interessanterweise wirft es nun rückwirkend Fragen nach dem eigentlich Normalzustand von Schrift auf.

Zugegebenermaßen abstruse Fragen … aber mit realen Konsequenzen für das, was auf dem Papier entsteht. Wie gesagt, alles eine Frage der Perspektive. Und der Zeit.

 

 

/// Das Original ist vom 31.03. bis zum 30.04.2023 im Gemeindehaus von Westerlo zu sehen. Ein Abdruck des Werks ziert auch die Ausstellungseinladung, denn gerade in diesem Werk kommt etwas zum Ausdruck, das mir ein zentrales Anliegen ist: die intensive Auseinandersetzung mit unserer Tradition in Wechselwirkung mit einem Faible für die Erforschung von Grenzgebieten in der Schriftkunst.